Cover
Titel
Verteilungsfragen. Wahrnehmung und Wissen von Reichtum in der Bundesrepublik (1960–1990)


Autor(en)
Kurr, Anne
Erschienen
Frankfurt am Main 2022: Campus Verlag
Anzahl Seiten
360 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Lorke, LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte Münster

Stetig vermögender werdende Reiche, Super- bzw. Ultrareiche als Gewinner der Pandemie, anmaßend bis unverschämt anmutende Vertragsdetails von Profifußballern und insgesamt eine wachsende Kluft zwischen den Polen „arm“ und „reich“ in der Welt, in Europa und nicht zuletzt hierzulande, wo das wohlhabendste Zehntel über etwa 60 Prozent des gesamten Vermögens verfügt. Dies bedeutet, dass die Bundesrepublik innerhalb des Euroraumes zu den Staaten mit der höchsten Vermögensungleichheit gehört. Mit diesen und weiteren, hier im Stakkato versammelten gegenwärtigen Beobachtungen und Befunden wächst auch die Aufmerksamkeit gegenüber der Thematik „Reichtum“, es steigert sich darüber hinaus unser vermutetes Wissen über soziale Ungleichheit und die Verteilung von Reichtum und Wohlstand. Zugleich werden Fragen nach den geschichtlichen Entwicklungen und Vorbedingungen dieser Topoi aufgeworfen. Anne Kurr geht diesen Fragen in ihrer Dissertation nach und stellt nicht nur titelgebend die „Verteilungsfragen“ der bundesdeutschen Geschichte in den Mittelpunkt ihrer Analyse. Dabei legt sie den Schwerpunkt auf die Produktion und Zirkulation von Wissen über „Reichtum“ von den ausgehenden 1950er-Jahren bis in die mittleren 1980er-Jahre. Im Kern geht es ihr darum, was zu bestimmten Zeitpunkten und von verschiedenen gesellschaftlichen Akteuren genau unter Reichtum – ähnlich wie sein Pendant „Armut“ ein relationaler und somit umstrittener Begriff, der Ergebnis gesellschaftlicher Auseinandersetzungen ist – und hiervon ausgehend unter (Un-)Gerechtigkeit und (Un-)Gleichheit zu verstehen war bzw. ist.

Kurr schlägt durch das kaum zu überblickende Material drei Schneisen, um den gesellschaftlichen Konjunkturen der zeitgenössischen Diskussionen nachzugehen. Das Reden über „Reichtum“ beschreibt sie als einen konstruktiven und produktiven Prozess, an dem verschiedene gesellschaftliche Gruppen beteiligt sind, was wiederum auf wechselseitige Beeinflussungen und Reaktionen sowie Interessens- und Machtfragen deutet. Diese Sprecher und deren Positionen sowie die Funktionalisierung ihres Wissens werden durch einzelne Vertiefungen analytisch reflektiert. Erstens interessieren sie fachwissenschaftliche Publikationen zum Thema, zweitens politische Aussagen der auf Bundesebene regierenden drei Parteien, drittens die massenmedialen Diskurse, die sich aus guten Gründen auf überregionale Medienerzeugnisse (Zeitungen und Zeitschriften sowie ausgewählte audiovisuelle Produktionen) beschränken.

Die Studie ist in fünf Hauptkapitel unterteilt und chronologisch angelegt. In den einzelnen Abschnitten kann die Autorin deutlich machen, dass „Reichtum“ in bundesdeutschen Verteilungsdebatten niemals ein zentrales, sondern allenfalls ein randständiges Thema war, das in den 1960er-Jahren zwar eine Politisierung erfuhr, mit der Wirksamkeit neoliberaler Konzepte aber an Aufmerksamkeit verlor, ehe die Diskussionen um gesellschaftliche Wohlstandsverteilung mit der Wiedervereinigung abermals an Fahrt aufnahmen. Die Verfasserin kann deutlich machen, dass verschiedene Akteure mal mehr, mal weniger vehement Sozial- bzw. Kapitalismuskritik artikulierten und wachsende Ungleichheiten kritisierten. In den 1950er- und frühen 1960er-Jahren beobachteten, so ihre Beobachtung, vor allem Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände, Sozialdemokratie und Kirchenvertreter der Bundesrepublik eine ungleiche Vermögensverteilung und monierten die aus ihrer Sicht verfehlte Vermögenspolitik der Bundesregierung, und zwar aus teils sehr unterschiedlichen Gründen (Reichtum als ethisches, soziales, verteilungspolitisches Problem).

Gerade für diese Formierungsphase ist dies ein wichtiger Befund, ging es doch um Forderungen nach sozialem Ausgleich und vermögenspolitische Kernfragen auf der einen und die Durchsetzung bzw. Wirkmacht marktwirtschaftlicher Prinzipien, nach denen der gesellschaftliche Umgang mit Reichtum ablaufen sollte, auf der anderen Seite – und dies wohlgemerkt in einer Zeit, in der vermögenspolitische Debatten vor der impliziten Kontrastfolie „DDR“ und folglich mit allerlei antikommunistischen Argumenten geführt wurden, es aber eben auch überkommene Reichtumsvorstellungen aus der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus zu verarbeiten galt. Die frühe Vermessung von Reichtum in Wissenschaft und Politik war vor allem eine Reaktion auf Unwissen und entsprach dem ausdrücklichen Wunsch, diese Lücke mittels entsprechender Expertise zu füllen. Die mangelnde Datenlage und die hoch sensible, normative Dimension des Gegenstandes – was ist eigentlich eine gerechte Verteilung? – ist indes sehr anschaulich an den damaligen Diskussionen abzulesen: Ob die Zahl von vermeintlich 1.566 Millionären, der „1,7 Prozent“, die mutmaßlich 70 Prozent des Produktivvermögens besessen hätten, oder die vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 1961 veröffentlichte, umstrittene Studie „Eigentum für alle“ – allesamt unterstreichen diese und weitere Beispiele das enorme Politisierungspotential des Themas. Und bereits damals waren, wie Kurr beschreibt, konkurrierende Konzepte und Antworten auf zentrale vermögenspolitische Kernfragen selbst innerhalb derselben Parteien zu konstatieren, die sowohl beschwichtigend-affirmative bis anprangernd-sozialkritische Forderungen transportieren konnten – und darüber hinaus die Stellungnahmen von Unternehmen und Wirtschaftsvertretern, die in jenen Debatten ebenfalls ein Wörtchen mitreden wollten.

Folglich ist es wenig überraschend, dass das gesellschaftliche Sprechen über „Reiche“ auch zur Skandalisierung taugte, wie Kurr in einem weiteren Kapitel zu den „langen“ 1960er-Jahren vertieft. Die zahllosen Inszenierungen von „reichen“ Lebensstilen und Lebenswelten, die Wohnorte der Vermögenden (die bisweilen auch in Kontrast zur Armut, etwa von kinderreichen Familien, eine gesellschaftspolitische Einbettung transportierten), aber auch Stifterwesen und Mäzenatentum befriedigten durch eine solche Individualisierung des bis dahin Abstrakten nicht nur das Wissensbedürfnis eines breiten Publikums. Ferner wurden Verstrickungen einzelner Unternehmer im Nationalsozialismus konturiert und von einzelnen Kommentatoren die Gefahren einer Macht- und Vermögenskonzentration für die demokratische Verfasstheit erörtert. Diese medialen Berichte verhandelten darüber hinaus übergreifende gesellschaftliche Fragen nach der (Il-)Legitimität des Reichtums und somit der Berechtigung sozialer Ungleichheit im Allgemeinen. Sie belegen mithin eine markante, wohl bis heute festzustellende Doppelung: die gleichzeitige Kritik an wie Faszination der unterschiedlichen Formen dessen, was wir als „Reichtum“ klassifizieren können.

Kurr zufolge lässt diese Kombination aus Politisierbarkeit und Skandalisierungspotential die Zeit nach „1968“ als eine wichtige Phase der Polarisierung und Diskussion über ungerechten Reichtum hervortreten. Vermögenspolitische Fragen gewannen an Bedeutung, die Reichtumsverteilung wurde „von großen Teilen der Gesellschaft“ (S. 223) nunmehr als soziales Problem bewertet, die Kritik an fehlenden bzw. wenig aussagekräftigen Statistiken wurde immer lauter. Das Thema war sowohl innerhalb der FDP, die die finanziellen Belastungen der Wirtschaft möglichst gering halten und die Investitionsneigung nicht gefährden wollte, wie auch innerhalb der SPD, die sich ebenso wenig auf eine einheitliche Position zu vermögenspolitischen Reformen einigen konnte, umkämpft, was abermals auf die moralisierende Dimension hinweist, nicht zuletzt auch auf das Eingeständnis limitierter politischer Handlungsspielräume. Möglicherweise war dies neben umfassenden gesellschaftlichen Veränderungen auch ein Grund für eine sich merklich verändernde Problemwahrnehmung seit den mittleren 1970er-Jahren. Neben internationalen und globalen Entwicklungen im Zuge der Ölpreiskrise 1973/74, die die Ungleichheit in der Bundesrepublik überblendet haben könnten, waren es aus Sicht der Verfasserin die Vielzahl neoliberal-wirtschaftsnaher Einschätzungen inklusive sozialstaatskritischer Verlautbarungen sowie marktliberale Ideen und übergreifende Krisendiskurse, die eine wachsende Akzeptanz eines gewissen Maßes an sozialer Ungleichheit spürbar werden ließen. All diese Diskursverschiebungen kann Kurr in Ausblick und Zusammenfassung noch einmal gebündelt konturieren.

Das Buch bildet einen wichtigen Baustein für die Wahrnehmungs- und Deutungsgeschichte sozialer Ungleichheit in der Bundesrepublik. Die Autorin argumentiert plausibel und zeichnet die Diskursverschiebungen nachvollziehbar nach. Bisweilen hätte eine Rückbindung an zeitgenössische Armutsdiskussionen sowie an den (in seiner Wirkung auf diskursive Prozesse in der Bundesrepublik freilich nachlassenden) Systemkonflikt noch weitere analytische Akzente setzen können, dies schmälert jedoch den Wert der Studie nicht. Jetzt ist es weiteren Forschungen vorbehalten, die Entwicklungen bis in die jüngste Zeitgeschichte nachzuvollziehen und mit den zuletzt erschienen Arbeiten zum Erben oder zur Steuerpolitik zu verknüpfen.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension